Verfasst von: alanwallislloyd | Mai 26, 2009

„Es gibt tatsächlich so etwas wie eine Tesserung“

[21. Mai 2008]

Madeleine L’Engles Jugendklassiker „Die Zeitfalte“ erscheint wieder auf Deutsch

„Wenn man etwas in Worte fasst, führt es zu so vielen anderen Gedanken…“
(The Small Rain, 1945)

Heute weiß ich nicht mehr, ob man mir das Buch empfohlen hatte oder ob es „zufällig“ in meine Hände geriet. Aber kaum hatte ich den gebundenen blauen Band mit den drei grünlichen Kreisen und dem Goldsiegel des prestigeträchtigen Newbery Medal auf dem Deckel aufgeschlagen, befand ich mich schon auf der Schwelle zu einer anderen Welt, in der ich immer noch unterwegs bin.

Damals war ich etwa zehn Jahre alt. In den darauffolgenden Jahren las ich „Die Zeitfalte“ jedes Jahr von neuem durch. Nach meiner Studienzeit habe ich das Buch wieder entdeckt, wieder mit Leidenschaft verschlungen, und anschließend meinen eigenen Kindern vorgelesen, sobald sie alt genug waren, es zu verstehen. Noch heute nehme ich den Roman immer wieder in die Hand und es bleibt eines der ganz wenigen Bücher (wie etwa Voltaires „Candide“ oder Max Frischs „Mein Name sei Gantenbein“), die ich mir alle paar Jahre wieder vornehme. Es hat mein Leben sowie mein eigenes literarisches Schaffen wie kaum ein anderes Werk geprägt. Und mit solchen Erfahrungen stehe ich keineswegs allein. Es scheint fast so, als ob die „Tesserung“, von der das Buch handelt, es nicht nur vermag, Zeit und Raum, sondern auch den menschlichen Geist zu falten und zu biegen – und uns zu ganz neuen Denkweisen und Welten zu transportieren.

Madeleine L’Engle

Die Autorin dieses wahrhaft einzigartigen Kinderbuches war Madeleine L’Engle, die im September 2007 im Alter von 88 Jahren gestorben ist. Obwohl sie zu den beliebtesten Kinder- und Jugendbuchautoren der englischsprachigen Welt gehörte („Die Zeitfalte“ allein hat sich schon mehr als 8 Millionen Male verkauft), bleibt sie in Deutschland weitgehend unbekannt. Eine Neuauflage der „Zeitfalte“ im kommenden Sommer könnte dies ändern.

Madeleine L’Engle Camp wurde am 29. November 1918 in New York City geboren. Ihr Vater, ein kriegsversehrter Journalist und Romanschriftsteller, zog mit seiner Pianistin-Ehefrau und der gemeinsamen Tochter Madeleine nach Europa auf der vergeblichen Suche nach einem Klima, wo er seine Gesundheit wiederherstellen konnte. Dieses unstete Leben sowie die spannenden aber auch problematischen Aufenthalte in England, bei ihrem Großvater in Südfrankreich und in einem Schweizer Internat regten Madeleines Fantasie an.

Ich habe geschrieben, weil ich wissen wollte, worum es alles geht. Mein Vater wurde vor meiner Geburt im Ersten Weltkrieg vergast, und ich wollte wissen, warum es Kriege gibt, warum sich die Menschen wehtun, warum wir uns nicht vertragen können sowie was die Menschen bewegt. Deswegen begann ich, Geschichten zu schreiben.“

Als die Familie sich endlich 1933 in Florida niederließ, wo ihr Vater zwei Jahre später an den Spätfolgen seiner Vergasung starb, wurde Madeleine wieder aufs Internat geschickt, dieses Mal nach South Carolina. Obwohl sie ihr Leben in dieser Eliteschule als einsam und unglücklich empfand, waren ihre Leistungen gut genug, um ihr ein Studium an der Smith College in Massachusetts zu ermöglichen. Nach ihrem Abschluss im Jahre 1941 zog sie wieder nach New York City, wo sie sich als Bühnenschauspielerin versuchte und ihre ersten literarischen Werke verfasste. Ihr Debütroman, „The Small Rain“, erschien 1945. Bei einer Aufführung von Tschechows „Kirschgarten“ lernte sie ihren künftigen Mann, den Schauspieler Hugh Franklin, kennen. Das Paar hatte drei Kinder zusammen.

L’Engle erzielte einen frühen wenn auch mäßigen Erfolg mit Romanen, die ihre unglücklichen Kindheitserinnerungen sowie die Erfahrungen der Entfremdung und des Außenseitertums verarbeiteten („Camilla“, 1949; „And They Were Young“, 1951). Wie sie in späteren Jahren sagte,

„Das Großartige daran, älter zu werden, liegt darin, dass man alle anderen Alter, die man schon durchlebt hat, nicht verliert.“

Es folgten einige magere Jahre, die sich bis zur Veröffentlichung ihres Familienromans „Meet the Austins“ im Jahre 1960 hinzogen (dt. „Wir Austins“, 1963, der Auftakt zu ihrer beliebten Austins-Serie). Mit knapp 44 Jahren kam ihr großer Durchbruch: Nachdem 26 Verlage ihn abgelehnt hatten, brachte das New Yorker Verlagshaus Farrar, Straus & Giroux 1962 ihren Roman „Die Zeitfalte“ heraus (dt. „Spiralnebel 101“, 1968; später „Die Zeitfalte“). Dieser Überraschungserfolg wurde mit dem Newbery Medal für das beste Jugendbuch des Jahres ausgezeichnet.

Es folgten weitere Bände der „Austins“-Serie sowie insgesamt drei weitere „Zeitfalten“-Bücher. Zwei ihrer Jugendromane, „The Arm of the Starfish“ und vor allem „A Ring of Endless Light“, gehören für mich zu den besten dieses Genres. Ansonsten schrieb sie mehrere Romane für Erwachsene, dazu Memoiren, Gedichtbände und zunehmend auch theologische Texte.

Ketzerische Visionen

L’Engle, die ihre Zeit abwechselnd in New York City (wo sie neben ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit als Bibliothekarin der Kathedrale St. John the Divine ihre Bücher schrieb) und im Farmhaus „Crosswicks“ in Connecticut verbrachte, war ein lebenslanges wenn auch eigenwilliges Mitglied der anglikanischen Kirche. Wie bei den anderen Pionieren der Fantasy-Literatur, wie etwa die Anglikaner George MacDonald („Lilith“ und „Hinter dem Nordwind“) und C.S. Lewis („Narnia“) sowie der Katholik J.R.R. Tolkien („Der Hobbit“ und „Herr der Ringe“), in deren Nachfolge sie steht, prägten ein mystischer Glauben an eine höhere Wirklichkeit sowie eine Vorstellung von Parallelwelten ihr Werk.

Dabei war L’Engle alles andere als eine Fundamentalistin und gilt im heutigen Amerika nicht einmal als „christlich“ – im Gegenteil! Sie war zeitlebens eine Anhängerin der „Allaussöhnung“, d.h. der theologisch umstrittenen Vorstellung, dass die „Gute Nachricht“ der Evangelien darin besteht, dass grundsätzlich alle Menschen dieser Welt früher oder später von einer höheren Kraft erlöst werden und dass die „ewige Verdammnis“, die von den großen Amtskirchen gepredigt wird, lediglich ein menschenfeindliches Schreckgespinst sei. Es geht also nicht darum, sich unterzuordnen, sondern die Augen aufzumachen und selber zu denken. Ihr insofern häretischer Glaube an die unendliche Gnade eines liebenden Gottes, ihre enthusiastische Akzeptanz der Evolutionstheorie und vor allem die Präsenz von Hexen und einer Kristallkugel in der „Zeitfalte“ waren der Anlass zu mehreren Versuchen, das Buch aus öffentlichen Bibliotheken in den USA zu verbannen, zumal in der Bibel steht, dass man „keine Hexe am leben lassen“ dürfe. Neben dem ebenso teuflischen „Harry Potter“ bleibt „Die Zeitfalte“ nach fast einem halben Jahrhundert weiterhin eines der am meisten umkämpften und sogar verbotenen Bücher in den USA.

Die Zeitfalte

Die Nacht war dunkel und stürmisch.

Margaret Murry saß in ihrer Dachkammer, in eine Decke gewickelt, am Fußende des Bettes und sah zum Fenster hinaus. Die Bäume schwankten, wenn der wilde Wind sie peitschte. Die Wolken jagten nur so über den Himmel. Hin und wieder riss die Wolkendecke auf; dann guckte ein bleicher Mond durch und warf lange Schatten, die gespenstisch über den Boden tanzten.

Das ganze Haus zitterte.

Meg, in ihre Decke gehüllt, zitterte ebenfalls.

Was für ein Romananfang! Er ist nicht nur spannend sondern enthält auch ein Körnchen Ironie. (Schließlich stammt der Satz „It was a dark and stormy night“ vom unmöglichen frühviktorianischen Romancier Edward Bulwer-Lytton und wurde auch mehrfach von Charles M. Schulz in seinem „Peanuts“-Comic persifliert.) Dabei trifft diese Passage genau den richtigen Ton für diese unheimliche Geschichte, die man am besten in einer wilden Oktobernacht anfangen sollte.

Meg Murry wohnt mit ihrer Mutter und ihren drei Brüdern in einem einsamen alten Farmhaus in Neuengland. Ihr Vater, ein berühmter Physiker und Präsidenten-Berater, der an einem Geheimprojekt der NASA beschäftigt war, ist seit Jahren verschollen. Und das ist nur eines von Megs Problemen: Sie kommt sich hässlich vor und trägt neuerdings eine Zahnspange, sie bekommt schlechte Noten, streitet sich ständig mit dem Schuldirektor und macht sich große Sorgen um ihren kleinen Bruder Charles Wallace, der als geistig zurückgeblieben gilt und von den größeren Schülern gemobbt wird. Aber der Herbststurm setzt eine schicksalhafte Ereigniskette in Gang, die alles ändern wird: Plötzlich steht eine geheimnisvolle, hexenähnliche alte Frau, die sich als „Frau Wasdenn“ zu erkennen gibt, in klatschnassen Bettlerklamotten vor der Tür. Die Familie bittet sie herein und gibt ihr etwas zu essen. Als sie gerade dabei ist, sich gerade wieder die Stiefel anzuziehen, sagt sie zu Megs Mutter: „Ach, übrigens, meine Liebe, da wir schon vom Weiterkommen sprechen: Es gibt tatsächlich so etwas wie eine Tesserung“ – worauf Megs Mutter fast vom Stuhl fällt.

Die „Tesserung“, bzw. der Tesserakt bedeutet hier die fünfte Dimension, die als eine Art „Zeitfalte“ benutzt werden kann, um die dritte und vierte Dimension – Raum und Zeit – zu überbrücken. „Frau Wasdenn“ und ihre ebenso bizarren Freundinnen „Frau Diedas“ und „Frau Dergestalt“ erzählen nun Meg und Charles Wallace, dass ihr Vater mit der Tesserung experimentiert habe und nun auf einem anderen Planeten festgehalten werde, wo er nur durch ihre Intervention erlöst werden könne. Gemeinsam mit diesen drei seltsamen Wesen sowie mit Megs neuem Freund Calvin O’Keefe „tessern“ Meg und Charles Wallace von einem Planeten zum anderen auf der Suche nach ihrem Vater, bevor die dunklen Kräfte von „ES“ auf dem totalitären Planeten Camazotz das ganze Universum verschlingen können.

Bei dem wilden Abenteuer, das jetzt folgt, kommt L’Engles prophetische Weltanschauung zum Vorschein: Die ersten werden die letzten und die letzten werden die ersten. Die hässliche, unfähige Meg entpuppt sich als mutige und erfindungsreiche Retterin mit hellseherischen Fähigkeiten. Der angeblich behinderte Charles Wallace zeigt sich als Genie. Calvin, der populäre Schulathlet, ist tatsächlich ein begabter Naturwissenschaftler und Hellseher, der die angeblich unattraktive Meg ehrt und liebt (und sie in späteren Büchern heiratet und mit ihr sieben Kinder zeugt!). Der entführte Vater, auf den Meg seit Jahren alle ihre Wünsche und Hoffnungen projiziert hatte, ist selber wehrlos und ausgerechnet auf ihre Hilfe angewiesen. Und die drei alten Hexen sind in Wirklichkeit schutzengelgleiche Inkarnationen von Sternen, die sich im kosmischen Kampf gegen „ES“ selbst aufgeopfert haben…

Aber wie passt das alles zusammen? Wie die Journalistin Cynthia Zarin, selber ein Fan, 2004 in „The New Yorker“ schrieb: „[Die Zeitfalte] ist – je nachdem, wie man es sieht – Science Fiction, eine warmherzige Familiengeschichte, eine Antwort auf den Kalten Krieg, ein Buch über die Suche nach einem Vater, ein feministisches Traktat, eine religiöse Fabel, ein Roman über das Erwachsenwerden, ein satanistisches Werk oder aber eine vorausahnende Meditation über die Zukunft der USA nach dem Kennedy-Mord.“ Zu dieser Liste kann man nur noch hinzufügen: Es ist einfach ein sehr gutes Buch.

Dabei war „Die Zeitfalte“ nie sonderlich erfolgreich in Deutschland. Das liegt sicherlich zum einen an dem fehlenden kulturellen Rahmen, zum anderen an der unterschwelligen spirituellen Botschaft – eine eigensinnige anglikanisch geprägte Mystik, eine Art „Christentum ohne Christus“, die im deutschen Kontext auf Unverständnis stößt. Und als Verleger hätte ich auf jeden Fall eine neue Übersetzung in Auftrag gegeben. Dennoch hoffe ich, dass die attraktive Neuauflage, die im Juli 2008 erscheint, dem Buch viele neue Leser gewinnen und auch „tessern“ wird.

Es bleibt die Frage, warum Madeleine L’Engle so anspruchsvolle Themen wie die Quantenphysik, die fünfte Dimension, das Wesen des Bösen und die rettende Macht der Liebe ausgerechnet in ein 200-seitiges Kinderbuch gepackt hat. Es ist schließlich kein Wunder, dass sie so lange nach einem Verlag suchen musste. L’Engle hat die Frage einmal so beantwortet:

„Man muss das Buch schreiben, das geschrieben werden will. Und wenn dieses Buch zu schwierig für Erwachsene ist, dann schreibt man es eben für Kinder.“

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Antworten

  1. Der Artikel macht Lust zum Lesen. Ich kenne das Buch noch gar nicht, aber ich werde mich auf die Suche begeben. Wünschenswert wäre sicher wirklich eine sensible Übertragung. Wurde das Buch für die Neuerscheinung neu übersetzt?
    Ein wenig tiefsinnige Konkurrenz zu Harry Potter kann keinesfalls schaden.


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