[28. Januar 2008]
Ein neues Lied ertönt von einem CD-Spieler auf einer ostafrikanischen Straße. „Heshima heißt Respekt!“ singt eine kräftige Tenorstimme. „Respekt kostet nichts. Um Respekt zu lernen, brauchst du keine Schule. Wenn du ins Ausland gehst und wieder kommst, dann beweist das Respekt. Respektierst du mich, dann respektiere ich auch dich. Respektiere die Aids-Kranken, die Waisen und Hinterbliebenen. Heshima heißt Respekt!“
Daressalaam, Tansania. 38 Grad im Schatten. In einer fensterlosen Geschäftsbude in der Uhuru Straße sitzt ein hochgewachsener junger Mann in einem Anzugshemd mit Schlips an seinem Plastikschreibtisch und sortiert „Safer-Sex“-Broschüren. Leonard Boniface, 29, ist der Gründer und Leiter des „Teenage Life“-Programms, das sich den Kampf gegen die Volksseuche Aids zur Aufgabe gemacht hat. Ein Blick auf die Statistik legt nah, dass ihm noch einiges bevor steht. Was kann ein junger Mann in einem engen, schlecht ausgestatteten Büro mit unsicherem Internetanschluss überhaupt erreichen? Ein Besuch bei Boniface zeigt, dass er sehr viel erreichen kann, wenn er eine Chance bekommt.
Der erste Fall von ukimwi– Kiswahili für Aids – in Tansania wurde 1983 registriert. Inzwischen sollen 1,5 Millionen Menschen, etwa 8,8% der erwachsenen Bevölkerung, infiziert sein. Mehr als 150,000 Menschen sind inzwischen gestorben. Die leeren Hütten, die die Überlandstraßen außerhalb von Daressalaam umsäumen, zeugen von der Zerstörungskraft des Virus. Die Bevölkerungsgruppe, die am meisten betroffen ist, sind „Jugendliche“, d.h. Menschen zwischen 15 und 35 Jahren, vor allem die gebildeteren und mobileren unter ihnen, wie etwa Studenten, Geschäftsleute, Fernfahrer, Techniker. In manchen Gegenden, wie z.B. in der Kagera-Region im Westen des Landes, wo die Seuche zuerst festgestellt wurde, sind mancherorts fast sämtliche Menschen dieser Altersspanne gestorben, so dass nur noch Kinder und Greise übrigbleiben. Das Land steht einem allgemeinen sozialen Dahinsiechen gegenüber, das durch wirtschaftliche Entwicklung und auswärtige Hilfe allein nicht ausgeglichen werden kann. Aids wird zwar Tansania, mit einem jährlichen Bevölkerungszuwachs von ca. 1,95%, nicht entvölkern, aber die Krankheit macht jeden Fortschritt schwer. Die Elite des Landes stirbt weg, bevor sie überhaupt ausgebildet wird.
Von außen betrachtet, könnte man meinen, Tansania hat keine Zukunft. „Das ist mir nie in den Sinn gekommen“, sagt Boniface. „Ich wusste aber sehr früh, dass ich etwas unternehmen musste.“
Boniface wurde 1978 als das achte von neun Kindern in der westlichen Provinzstadt Shinyanga geboren. Boniface hörte schon als Kind von der Seuche und bekam bald darauf die ersten Opfer zu Gesicht. Im Jahre 1990 besuchte er einige Seminare über die Epidemie und gründete zusammen mit seinen Freunden eine Zweigstelle der katholischen Jugendorganisation „Youth Alive“, die sich schon früh dem Kampf gegen Aids verschrieben hatte. Als er 1998 nach Daressalaam zog, um sein Journalistikstudium aufzunehmen, schloss er sich der „Youth Alive“-Gruppe in der Hauptstadt an und engagierte sich für die Anti-Aids-Arbeit. Dann – ganz ohne Geld und Unterstützung – gründete er 2000 seine eigene kleine NGO, das „Teenage Life Programme“ (TELIP).
Boniface hatte vor, seine Erkenntnisse über HIV/Aids und das Leben normaler Jugendlicher auf der Straße mit den technischen und kommunikativen Kompetenzen, die er sich an der Dar-es-Salaam School of Journalism erworben hatte, zu verbinden. Er wollte Information über Aids an Jugendliche verteilen, und zwar durch Rundfunk und Fernsehen, persönliche Kontakte und Kultur. Dabei spielt Information eine Schlüsselrolle, da Aids in ganz Afrika ein gesellschaftliches Tabu darstellt – Aids gilt weiterhin als eine Krankheit der Unmoralischen und Perversen, und die Frage nach den sexuellen Gewohnheiten eines/er Partner/in wird immer noch als eine Beleidigung aufgefasst oder als ein Witz belächelt. Aber nachdem Boniface selber in einem Jugendclub oder vor einer Kirchengruppe schon ein paar Witze erzählt hat, verstummt das Gelächter sobald er anfängt, Themen wie die Gefährlichkeit von Analverkehr und Gelegenheitsprostitution sowie den Nutzen und Gebrauch von Kondomen beim Namen zu nennen. „Manche Jugendlichen hören von diesen Dingen zum ersten Mal“, sagt Boniface. „Die großen internationalen Aufklärungskampagnen erreichen die Menschen auf der Straße nicht.“
Durch seine alltäglichen Kontakte mit den Jugendlichen der Millionenstadt begriff Boniface, dass Information allein nicht ausreicht, daher seine Betonung der Kultur, und zwar unter dem Stichwort „moralischer Verfall“. In Tansania hat dieser Begriff eine konkrete Bedeutung: in einer Zeit verwirrender Globalisierung und des freien Falls traditioneller sozialer Beziehungen ist „moralischer Verfall“ ein Sammelbegriff für ein Phänomen, das wilde Prostitution, Vergewaltigung, Kindesmissbrauch, Alkoholismus, Drogenmissbrauch, Raubüberfälle und andere Übel umfasst. Dabei ist die Prostitution der größte Risikofaktor. Die „changudoa“ oder Straßenmädchen der großen Städte sehen für sich keine andere Alternative, als sich auf ungeschützten Sex mit fremden Männern einzulassen. Und es gibt immer noch viele Männer, die glauben, ihre Aids-Erkrankung nur durch ungeschützten Verkehr mit Jungfrauen heilen zu können.
Seit sechs Jahren bereist Boniface das Land und hält Vorträge über Aids, Safer Sex, einen verantwortungsbewussten Lebensstil sowie das Leid der HIV-Positiven, die zunehmend ausgegrenzt werden. Im Rahmen seines Journalistikstudiums reiste er in die Masai-Region im nördlichen Tansania und auch nach Botswana, wo er sich mehrere Wochen aufhielt und ein Feldprojekt über die Einstellung der Jugendlichen dieses verseuchten Landes zur Aidsepidemie durchführte. Der Dokumentarfilm, den er dort drehte, wurde im tansanischen Fernsehen ausgestrahlt. Er erstellt zudem einen Rundbrief, den er in Dar und vor allem in ländlichen Gebieten verteilt und ist dabei, in Zusammenarbeit mit der Regierung und privaten Spendern einen national „Tanzanian AIDS Fighters Awards“ (TAFA) ins Leben zu rufen, um die engagiertesten Aids-Aktivisten seines Landes auszuzeichnen.
Eine Spendenaktion aus Deutschland ermöglichte Boniface im Frühjahr 2004, sein Büro in der Uhuru Street zu mieten und mit einem Computer samt Internet-Zugang auszustatten. Somit hat er duch seine eigene Initiative das erste Aids-Informationszentrum eingerichtet, das dieses Slumviertel je gesehen hat. Mit seiner neuen Anschaffung, einem mobilen Aufklärungszentrum, verbreitet er seine Botschaft in allen sechsundzwanzig Regionen des Landes.
Dank seiner Beziehungen zu internationalen Organisationen (UN-AIDS, Oxfam, USAID) und privaten Mäzenen ist es ihm auch gelungen, an einer Vielzahl internationaler Veranstaltungen teilzunehmen. Er hat an mehreren Konferenzen in Kenia mitgewirkt und reiste 2003 als Delegierter zur Weltjugendkonferenz in Marokko. Im Jahre 2004 vertrat er sein Land im von Oxfam gesponserten Internationalen Jugendparlament in Sydney, und im Sommer 2005 reiste er zum Weltjugendtag in Köln. Im Sommer 2006 nahm er an einer internationalen Aids-Tagung im kanadischen Toronto teil und präsentierte einen Dokumentarfilm, die er mitproduzierte – „Legends“, über die häufigsten „Aids-Legenden“ unter Jugendlichen – beim „MTV Staying Alive 48 Fest“ Kurzfilmfestival. Er träumt davon, seine internationalen Beziehungen auszubauen und ein journalistischen Praktikum in Europa oder Nordamerika zu machen.
Boniface ist sehr weit gekommen für einen jungen Mann aus Shinyanga, und er könnte noch viel weiter gehen. Er will sein Projekt ausbauen und es zu einem Modell für ähnliche Projekte in ganz Afrika machen. So klein wie seine Unternehmung auch ist (es besteht im Grunde nur aus ihm selbst und etwa zwei Dutzend Freiwilligen) besitzt sie entscheidende Vorteile gegenüber den regierungsgestützten und ausländischen Hilfsprogrammen. Da sind vor allem der direkte Kontakt zur Straße, die Fähigkeit, die Jugendlichen in ihrer eigenen Sprache anzusprechen, sein Verständnis für die Alltagskultur (Musik, Sexualität, die Faszination der jungen Generation für Computertechnik und Kommunikation), der zielbewussten Einsatz der finanziellen Mittel sowie direktes Feedback zu nennen. Im Gegensatz dazu versickern die Gelder der großen Hilfsorganisationen durch maßlose Betriebskosten und Korruption. Oft erreichen sie nie die Menschen, für die sie bestimmt waren. Vor kurzem haben Boniface und einige befreundete Musiker einen Anti-Aids-Song im Bongo-Flavour-Stil aufgenommen – „Heshima“ („Respekt“) – den sie im Radio senden und als CD verkaufen. Respekt ist der Schlüssel zu seiner Botschaft: Respekt vor sich selbst, Respekt vor seinem/r Partner/in, Respekt vor den Opfern der Seuche, Respekt vor der Gesellschaft und der Tradition. Boniface selbst ist davon überzeugt, dass Aufklärung, Verhaltensänderungen, verbesserte medizinische Versorgung und ein neues kulturelles Bewusstsein die Verbreitung von Aids bis zum Jahr 2015 stoppen könnten, wie sie von den United Nations Millennium Development Goals (MDGs), denen er sein Projekt verschrieben hat, verlangt wird.
Und welche Ziele hat Boniface persönlich? Er erhält keinen Gehalt für seine Mühe, und bei seiner Tätigkeit als freier Mitarbeiter einer Zeitung verdient er höchstens einen Dollar am Tag. Dabei müsste er sich glücklich schätzen, denn viele junge Journalisten arbeiten völlig umsonst, um wenigstens berufliche Erfahrungen zu sammeln. Sein persönlicher Wunsch ist, später UN-Jugendbotschafter oder internationaler Journalist zu werden. Dabei entstammt er nicht Tansanias globalisierter und privilegierter Minderheit. Ohne finanzielle Ressourcen sind seine Chancen auf ein ausländisches Praktikum, geschweige denn eine gesicherte Stelle als Journalist oder Diplomat, gering. Somit steht er vor einem allgemeinen Problem der Dritten Welt: auch wer eine Ausbildung genossen hat, findet oft hinterher keinen Job. Die Infrastruktur ist einfach nicht vorhanden. Und wenn junge Ärzte, Anwälte, Ingenieure, Journalisten und andere Professionelle eine Position finden, erkranken sie oft an Aids oder Malaria, bevor sie etwas bewirken können.
Aber Boniface kann sich solche Zweifel nicht leisten. „Wir müssen weiter kämpfen“, sagt er. „Wir haben einfach keine andere Wahl.“ Deswegen steckt Boniface seine Broschüren in seinen Rucksack, zieht seinen Schlips gerade, und geht hinaus auf die Straßen Daressalaams, um seine Botschaft zu verbreiten: Safer Sex, Verantwortung und etwas wahrhaft Neues: Respekt.
Leonard Boniface (r.) und Alex Kassim (m.) mit dem Autor im UN-Büro, Daressalam, März 2004
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Weitere Informationen unter: http://www.teenagelife.4t.com/
(c) 2008 A. Wallis Lloyd
Genialer Beitrag, das wollte ich schon immer Mal ausdrucken, wusste nur niemals wie man dies zu Papier bringen konnte 😉 !
By: Wecka Pockof on Februar 5, 2011
at 5:41 am